LIQUID NIGHTS

(über LET THEM GROW von Maja Osojnik)

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Der Grundton ist schwarz und fließend, un peu comme le nuage de Mazen Kerbaj

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Mittwoch, 16. Dezember 2015. Raymond’s Bar, 22 Uhr

This is not a review. Ich kam hierher und setzte mich an die Bar da kein Tischchen mehr frei war und wurde umgehend auf einen großen Whisky (Laphroig, 10 years) eingeladen, von einem Mann in Anzug, mir rechts gegenüber. Zwischen uns sitzen zwei Frauen. Seine, und eine, die meine sein könnte. Der Whisky verstärkt den Kaffee.

Ich ging in die Bar schreiben um mich aus meinem Zimmer zu entfernen, in dem ich die Platte immer wieder gehört habe und, gleichzeitig, um mich ihr wieder anzunähern, um sie zu kreisen, über Umwege wieder zu ihr zu kommen, um zu erforschen was am Weg und am Rückweg zu ihr liegt. Diese Bar liegt am Weg und ein Film, den ich in den letzten Tagen wieder gesehen habe, SANS SOLEIL von Chris Marker. Darin berichtet Sandor Krasna briefweise von seiner Reise nach Japan und in diesen Briefen schildert er viele Szenen aus Guinea Bissau; Cabo Verde. Ich erinnere mich – jetzt, hier in der Bar – so lebendig an diesen Blick der Marktfrau, straightforward, that lasted a twenty-fourth of a second, the length of a film frame – direkt in die Kamera, auf den Zuschauer, in meine Augen, der mich hineinzog in den Film in diesem Moment. Ich war dort, am Markt in Praia (Cabo Verde), um die Zeit zu der ich geboren wurde. Dieser Sekundenbruchteil gehört auf meine Version Prinzessin Shonaguns Liste of things that quicken the heart.

Mir liegt es, so wie Sandor Krasna, im Bericht von etwas, von etwas anderem zu berichten. Indem ich von der Platte schreibe, möchte ich von der Gesellschaft berichten. In dieser Gesellschaft, in der wir leben und der diese Platte entstanden ist, die Idee zu dieser Platte, die sounds, die Worte, die Wortkombinationen, die Referenzen und Zitate, ob es gewollte oder einfach nur passierte sind. Also möchte ich von ihr berichten, von dieser Welt, die so eine Platte hervorbringen kann – und die Worte ihrer Beschreibung.

Aber zunächst kann ich sagen, ich sage : Die Platte ist KATHEDRAL. Oder : es ist eine Unterwasserplatte. Es ist eine Nachtplatte. Es ist eine Rotweinplatte. Es ist eine Dancer In The Dark Platte, auch weil die Musik oft maschinell ist. Es ist eine Rückzugsplatte, denke ich, sie hört sich so an, vielleicht sogar eine Fluchtplatte vorm allgemeinen Sozialen zu sich selbst, wo nur die speziellen und die bestimmten Menschen zugelassen sind und wo eine Arbeit gemacht werden kann – diese Platte – die sich selbst dient. Denn außerhalb dieses Ortes, den man sich schaffen und nehmen muss, der einem nicht gegeben, sondern stets streitig gemacht wird, läuft es eher so wie Severin Heilmann in Streifzüge No. 65 schreibt :

Der Zweck der Arbeit ist aber kaum je die Arbeit selbst, vielmehr bemittelt sie dazu, sich in der Freizeit von ihr zu erholen. So hat dann aber auch die Freizeit nicht sich selbst zum Inhalt, sondern eben die Instandsetzung und Instandhaltung für die Arbeit. Was unweigerlich zur Folge hat, dass weder in der Arbeit noch in der Freizeit sich jemand ernstlich dem Spielerischen widmet…

Noch in meinem Innenraum, das heißt in meiner Wohnung, als ich die Platte actually hörte, dachte ich : Crne Vode. Wurde hinabgelassen, abgeseilt, in einer Taucherglocke – Glockenspiel – an einem eisernen Drone – madness protects as fever does. Ich rollte mich ein auf meinem Bett wie ein Ungeborener floating im Mutterleib. Der ultimative Rückzug. Rückzug von dieser Welt, die kreischt : Hello to another senseless war !

Notiz vom kleinen Block :

Wir leben in einer Welt, in der sehr viele der Medien dazu dienen uns ein Narrativ von Gut und Böse zu vermitteln (offensichtlichstes Beispiel in den letzten Tagen : wiederkehrende negative Berichte im Mittagsjournal über Russland und umfassende Kritik an Vladimir Putin, den ich hier nicht verteidigen will, sondern lediglich darauf hinweisen möchte, dass das Narrativ einen Feind erkoren hat). Wir sind von diesen Medien abhängig. Es gibt wenige Alternativen. Wir wissen, dass die Nachrichten Lügen transportieren, dass auch anscheinend bzw. ehemals respektable Medien in diesem Spiel eine Seite gewählt haben oder wählen mussten. Wir akzeptieren widerwillig oder bereitwillig die Lügen, mit denen sich die Machtausübenden zu legitimieren versuchen – und wir legitimieren sie somit – jene Machtausübenden, die Zerstörung und Armut und vieles mehr verursachen.

Worin, in diesem Machtkampf auf globaler und provinzieller Ebene kann man so eine Platte, so ein ehrliches, denke ich – und somit wie nicht von dieser Welt wirkendes – Musikalbum situieren ? Wie in Relation setzen zu dieser Gesellschaft ? Und noch viel wichtiger : Wie setzt es sich selbst in Relation ?

Hier (Raymond’s) an der Bar wird über die Sinnlosigkeit des Lebens gestritten. Die zunehmend betrunkene Frau, die meine sein könnte, schreit, dass das Kriegen von Kindern nichts anderes sei als ein scheiß egoistischer Akt. Nur dazu dienend, dem eigenen Leben etwas Sinn zu geben. Es gehe alles den Bach runter, sagt sie. Die Sinnlosigkeit greift um sich, ergreift was und wen sie will. Die Älteren, der Mann im Anzug und seine Frau, versuchen sie zu besänftigen. Sie haben vielleicht etwas zu verlieren, denke ich. Aber, was hat man schon zu verlieren ? Die Frau empört sich weiter über viele alltägliche Demütigungen, die wir dulden und stillschweigend, Buchstaben aufs Papier malend, gebe ich ihr Recht.

Aber nun zum Versuch herauszufinden, wie sich die Platte selbst in Relation zur Welt setzt. Einmal über andere Musik, die Platte durchfließt viele Genres, ohne, natürlich, in einem zu bleiben. Ich fand bestimmte Stellen, ganz genaue Sekunden, die sich wie eine Kreuzung mit anderen Platten anhören, Sekundenkreuzungen. Wie ein Durchgang, der sich plötzlich auftut und in den man eintreten kann, wie Chihiros Eltern und mit ihnen Chihiro (Film von Hayao Miyazaki). Es tun sich immer wieder Pforten auf – die Musik öffnet die Pforten der Wahrnehmung – die ein großes Universum mit Sternenkuppel und experience und Traum und Wirklichkeit erahnen lassen, das auf der Platte in Majas Universum, dem Innenraum des Rückzugs, den vielen bunten Lichter innerhalb der Taucherglocke im Crne Vode, (hin)einfließt.

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Donnerstag, 17. Dezember 2015. Café Europa, halb sieben

Auf dem Weg in die Piaristengasse zum Gomberg Swinger Club mit Franz Hautzinger, Trompete; Maria Petrova, Schlagzeug; und Matija Schellander, Kontrabass.

Die Situation gestern im Raymond’s kippte ins Verfahrene. Die Frau des Mannes im Anzug, die gar nicht seine Frau war, kam zu mir rüber und redete auf mich ein, das Buch zuzuklappen und mich doch zu ihnen zu stellen. Ich schrieb aber weiter. Kurz darauf wurde mir ein weiterer großer Laphroig hingestellt. Ich schrieb aber weiter. Die Frau, die meine hätte sein können, blickte ein paar mal zu mir rüber und sprach laut darüber, dass man Menschen in sexuellen Situationen viel besser kennenlernen könne. While you draw silently impromptu maps on my hungry skin / I undress my distance sagt Maja in a lullaby to an unborn child, a love song. Oder in Hello, I can’t find my head sagt sie and then I – imagine myself – how I – lovingly – but yet – convincingly – scream at you / WHY? WHY? WHY? Das sind vielleicht zwei Seiten eines YOUs oder sind es zwei unterschiedliche YOUs ? – Ich führe hier den Versuch fort, herauszufinden, wie sich die Platte angesichts der Welt positioniert. – Maja spricht zu uns oder zu jemandem und ich glaube, diese YOUs (und WEs) sind die Öffnungen in der Taucherglocke, die Bullaugen, durch die sie hinausblicken und hinaussprechen kann ins schwarze Wasser der Welt. Aber ZU WEM spricht sie? Sind es BESTIMMTE Menschen, die sie anspricht? Das bleibt ein Geheimnis, aber ich kann ihre Worte für meine eigenen bestimmten Menschen verwenden. Sind es Rollenmodelle, die sie anspricht, anruft, anklagt? Ist es das allgemeine Soziale? La putain société? Die Umstände, das schwarze Meer in dem wir treiben?

We built this desert and we named it home.
Because of you.
I become less for you,
just (you) turn me down.
Down I fall,
Because of you.
Inconsonant with your authority.

Auf meinen Umwegen zu diesem Text über die Platte kam ich zu Béla Tarr in die titanik bar und hörte die namenlose Sängerin Kész az egész (Over and done) singen.

https://www.youtube.com/watch?v=3-NGzMM45A8

Draußen regnet es, drinnen war’s triste, aber nicht hoffnungslos, ‘It’s good that utopia exists,’ singt sie. Auch hier in Wien regnete es den ganzen dunklen Tag lang. Jetzt am Abend hat es aufgehört und ich konnte durch die Straßen gehen, von unten vom Wienfluss rauf nach Neubau und dann weiter in die Josefstadt. In meinem Innenraum, als ich die Platte wieder hörte, nothing is finished until you see it, dachte ich wieder an diese namenlose Sängerin in der titanik bar, aber leicht verschoben in einen David Lynch Film. Ich dachte : beauty singing in strange surroundings. Die strangé Umgebung auf der Platte sind die sounds, strange as the world. Ich dachte : a woman in trouble – wie die Frau in der Bar, Raymond’s, nicht titanik, oder : sowohl als auch – drowning in her sounds. Durch die Lecks in der Taucherglocke tropft das schwarze Wasser auf die bunten Glühbirnen der Lissabonner Lichtgirlande, ein Funke entsteht, kurz fällt das Licht aus, carefully, I am broken. A woman in trouble. In trouble aber nicht in Gefahr. Maja kennt ihre Taucherglocke, denke ich, denn es ist nie eine neue, eine andere Taucherglocke, es ist immer die selbe. So wie ein Trip LSD immer der selbe ist, sagte mir ein Freund – man steigt einfach wieder ein, das Ticket ist nur Millimeter groß. So wie ein Traum immer der selbe ist – man schläft einfach wieder ein. So wie die Musik :

It’s almost like the analogy of : If you are standing next to a river and the river is raging, and then at one moment your’re standing there and the next moment you jump into the river. Well, your’re going to have to use everything you know and every bit that you have ever experienced to try to deal with being in this river. And you don’t know where things are coming from, they’re coming from all sorts of directions, and then you don’t know where you are going to go. So you find the flow and then you jump out of the river, your’re standing by the shore again, the river is still doing its thing, it’s still there, there is still the flow, you still have experienced it, you can still experience it again. So it doesn’t really ever end.

Michael Zerang, theoral no. 7
http://www.theoral.org/?page_id=290

Ich möchte sagen : es sind Orte, die Musik und die Träume. Es sind Parallelwelten, in die wir uns hineinwerfen (können). Können wir gleichzeitig in mehreren dieser Welten sein? Gibt es einen Ort, einen Punkt, einen Gedanken, einen sound, &c. wo sich diese unterschiedlichen Parallelwelten überschneiden, wo sie übereinkommen? Musik, Traum, Wahrnehmung, vielleicht auch noch die Träume und die Musik jener bestimmten Menschen. Unter der Taucherglocke vielleicht mit den Lissabonner Sonnenuntergangsgirlanden gebettet auf den eigenen sound, dem Eigensound.

Ich meine : die Taucherglocke ist die Platte, also : die Platte ist ein Bild der Taucherglocke, eine mögliche Verkörperung, die Hörbarmachung des Zusammenfließens unterschiedlicher Ströme innerhalb Majas Taucherglocke, eine Zusammenfassung, eine Interpretation des bisherigen Lebens, eine Manifestierung und eine Bestätigung der Identität der Musikerin, die in diesem Fall nicht namenlos ist, Maja Osojnik. Die Taucherglocke ist der Ort, an dem, wie ich mir vorstelle, die Träume, die Musik, der Sound, die unterschiedlichen Wahrnehmungen aufeinander treffen können, wo ein Sound einen guten oder einen schlechten Traum ausdrücken kann, muss, oder eine Wahrnehmung, eine Erinnerung, wo Sounds Träume auslösen, Erinnerungen schaffen, muted truths artikulieren, oder das Vergessene mit Erfundenem ersetzen – replacing the forgotten with the selfinvented.

Machtverhältnisse sind veränderlich.

 

fett : Zitate aus den lyrics von LET THEM GROW

Quellen :

http://www.markertext.com/sans_soleil.htm

http://www.streifzuege.org

http://grandpapier.org/mazen-kerbaj/mon-nuage

English version here
http://the-attic.net/reports/1625/liquid-nights.html