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das ist keine Review, es ist ein Brief an Andrew Choate nach Kalifornien, der während und kurz nach dem Festival Music Unlimited 29 geschrieben wurde
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Wels, Freitag, 6. November 2015
Dear Andrew,
I came early, ich bin sehr früh angekommen in Wels, da ich mit Peter und Heidi im Auto mitfahren konnte. Do you remember Peter? He’s working in the Konfrontationen Restaurant and this year he’s going to have a cocktail bar right next to the Unlimited Dancefloor, so we can order our drinks while dancing.
The weather is beautiful, it’s actually hot. I already met a lot of musicians, like Joe Williamson, Han Bennink, Tobias Delius, Tristan Honsinger – the quartet, qoui – and I was nodding at Christina Vetrone from far. In this very moment I am having a coffee at Café Strassmair, the second one. The first I shared with our Romanian friends George Staicu, Mihai Statulescu and Bogdan the DJ Scoromide who had just arrived from Bukarest and Budapest. (Again, Sorin couldn’t make it). ‘Bucarest is the best city for parties,’ Bogdan said, ‘because there are no laws, you can go on for days. Actually right now there is a 100 hours party happening.’ And then he told me about a starlet who became the victim of a gypsy palm reader. Quite reasonably the palm reader told the starlet that money is the devil and in order to get rid of the devil she had to get rid of the money. So they arranged a meeting at a lake where the devil would appear and the starlet would have to throw the money at the devil. Both arrived at the agreed hour at the lake but what the starlet didn’t know was that the palm reader had an accomplice who is a diver and who was waiting under water. When she made signs with her flashlight he slowly emerged from under water and the poor starlet was so afraid that she threw her money at the diver and both, the gypsy woman and the starlet, escaped. The diver collected the money and shared it with the palm reader. This came out months later because the starlet had doubts about what had happened and sued the palm reader. ‘Those are the things that are happening right now in Romania,’ Bogdan said, ‘and of course you might have read about the fire in the club and the protests against our corrupt politicians and did I tell you about Diana Miron?’ ‘No.’ ‘She’s a violin player and she’s really good. Check her out on Youtube or Soundcloud!’
Now, they’ve just left and I am starting the experiment of writing about the festival, of writing you about the festival. I need you as a reason for writing, als Anlass über das Festival zu schreiben because you are not here. Ich brauche dich um mir so etwas wie Gültigkeit zu verschaffen, Validität. Und ich bitte dich um eine Antwort um meinen Report zu beglaubigen und zu ergänzen. Ich bin gespannt, ob ich über die Musik schreiben kann, hab‘ ich so noch nie gemacht. Es wird gerade dunkel, der Rest, oder besser, der Großteil des Nickelsdorf-Wanderzirkus sollte bald ankommen. Heuer sind wir sieben im Sechserzimmer, aber bei den Rauchschwaden, die bald durch den Raum wogen werden, fällt das gar nicht auf.
Ich werde mich in diesem Jahr eher an den Rand setzen, beobachten, nüchtern bleiben, bis zum Schluss und mich nicht in den Sog des Festes neigen und mich mitreißen lassen, nicht vor Sonntag nacht zumindest.
Etwas später: Es ist gar nicht so einfach, konzentriert zu berichten. Überall wo man sich hinsetzt, kommt jemand vorbei, überall wo man hingeht, ist schon jemand. Langsam trudeln alle Familienmitglieder ein. Hugs, etc. Winken. Sprechen. Nun hab ich mich ins Gemurmel vor dem ersten Konzert abgeseilt. Der helle Holzboden ist erleuchtet, die Wände sind schwarz, die Bühne auch noch. An der linken Wand formen leere Tschikpackerl den drei Meter langen Schriftzug ‘NO SMOKING’. Ich sitze am Boden und denke noch daran, was Fabien (Simon), le directeur du Festival Météo à Mulhouse gesagt hat. Kurz: networking, rencontrer des musiciens, écouter de la musique. Eh. Dann wurde plötzlich der Moderator vorgestellt: Reinhard Stöger, Grölli! Es war ein seltsames Gefühl, seine Stimme hier zu hören, ein Vertrautes überlagerte ein anderes Vertrautes. (Das ist dann wahrscheinlich das was Christof Rekontextualisierung nennt). Nickelsdorf und Wels, Nickelsdorf in Wels.
First Concert, Harmolodic Affection (Joe McPhee, Saxophone, Trompete; Isabelle Duthoit, Klarinette, Stimme; Michael Zerang, Schlagzeug; Christof Kurzmann, ppooll): It was a beautiful beginning, Christof who was playing only deep sounds and Isabelle started as a duo until Joe and Michael came on stage. The music began to flow and I couldn’t stop thinking of her dark vagina, you know, that girl from the restaurant, I wrote you about her. Do such things happen to you during concerts? During first concerts? I am sure it happens to you. My mind may have still been travelling somewhere between Vienna and Wels, although we didn’t drive very fast, 120 on the motorway. Back to the concert: Joe McPhee recited a poem he had written about the cold side of Marseille – Gitchi gitchi ya ya da da / Gitchi gitchi ya ya here – and the music was great! Sie spielten noch ein paar weitere Nummern aber was soll ich sagen? Zu Fabien sagte ich, ‘C’était très beau.’ Und auch die Wahl von Isabelle war interessant und es funktionierte sehr gut. Sind die beiden Schulen (von Isabelle und Joe) wirklich so unterschiedlich, wie es Fabien nannte? In diesem Augenblick, in dem die Kugel meines Kugelschreibers übers Papier rollt und ich diese Worte forme, fast zeichne, versäume ich das erste Solo, Katharina Klement. Gut, dass ich sie vor ein paar Monaten in der brut Wien solo spielen hörte – war sehr gut. Ich bin schon überfordert, auch von den vielen bekannten Gesichtern. Vielleicht sollte ich doch trinken? Da kommt Hans.
Second Concert (Duo Marinare: Enza Prestia, Stimme, Gitarre; Christina Vetrone, Stimme, Akkordeon): Sie sangen lullabies from Napoli and Sicily. Ihre Stimmen können einen wieder aufrichten, wenn man am Boden liegt, dachte ich, wär vielleicht auch für Sonntag Nachmittag ein gutes Programm. Und ich dachte an H. C. Artmann, an Austrian poet. Vor kurzem las ich vor Anna Jeller’s Buchgeschäft (in der Nähe des gelb-schwarz gestreiften Bollers an den du dich sicher erinnerst) eine Kurzautobiographie (Meine Heimat) und da kommt vor, ‘Brechmittel der Linken’. Ich mag diese Selbstbeschreibung, vielmehr noch als das darauf folgende ‘Juckpulver der Rechten’. Aber nur gemeinsam machen sie Sinn. Damit stellt sich Artmann außerhalb der Politik, ist aber nicht unpolitisch. Zu seiner Zeit, denke ich, gab es noch ein Linke, heute ist jegliche österreichische Politik rechts.
Pause: Unmöglich das Solo zu hören, zu viele Leute.
Ich hab Magda und Daniel vom Club Pardon, To Tu aus Warschau entdeckt, du erinnerst dich an sie, oder? Sie waren im Sommer auch in Nickelsdorf und saßen meistens, wenn man aus dem Restaurant in den Hof kommt, gleich rechts auf den Holzstufen. Ich freu mich echt, dass sie gekommen sind! Dann, reden, reden, reden. Mir schwirrt der Schädel. In diesem Moment versuche ich mich so still wie möglich auf das Dritte Konzert (Irène Schweizer, Klavier; Louis Moholo-Moholo, Schlagzeug) vorzubereiten, schon im Konzertraum, diesmal sitze ich auf einem Sessel.
After the concert: What can I tell you? You know how it sounds. How should I describe it with empty phrases? Maybe like this: Everything THEY DO happens for a reason. Es war südafrikanisch. Ich sah Johnny Dyani. Tilo tilo.
As I cannot write about the music I try this: Every concert should inspire something – a poem, a dialogue, a question, etc. Because: Can I judge the musicians on stage? I mean, not personally, but what they present and represent on stage. I think, I cannot. At least, I don’t want to. I don’t want to judge the vulnerable or the giving – I think, the artist is vulnerable, always in the liminal sphere. I can say, ‘I didn’t like it’ but if I see people trying, even if they fail, I am happy to be a part of it because in the end it is very rare that a concert is really outstanding and to hear and feel that also depends on yourself. Until now I liked the music. I am glad to be here, to listen, to experience. I am thankful. Oh, there’s one thing I don’t like, but I’ll tell you later because the Fourth Concert (Tobias Delius Quartet: Tobias Delius, Saxophone; Tristan Honsinger, Cello; Han Bennink, Schlagzeug; Joe Williamson, Bass) is about to begin. Nach dem Konzert: Es war cool. Aber Han Bennink war mir zu ‘lustig’. Ich finde das völlig uninteressant, das Lustige, nicht das Spiel als Spiel. Wie Radu Malfatti, den ich ganz schön oft in letzter Zeit sehe, sagte, ‘Bei den Holländern muss immer etwas Lustiges dabei sein, das war schon in den 60ern so.’ Viel hat sich da nicht geändert scheint’s, auch die Einlagen sind die selben geblieben, zumindest seit den 90ern. Wenn ich meine Augen schließe, ist es dann so gut wie es eigentlich ist, außer den Lachern zwischendurch. Bei diesem Konzert, als hauptsächlich gespielt wurde, hat sich die Musik mit meiner sich in mir ausbreitenden Mitternachtsmüdigkeit gemischt, verstrudelt. It’s jazz, dachte ich mir, der in meiner Eintraumphase agiert. Der Jazz, den ich meine. Riccarda (Kato) sagte nach dem Konzert zu mir was ich mir dachte, ‘Der Honsinger ist so gut!’
Was mir nicht gefällt: Dieses Jahr gibt es keinen allgemeinen, von netten Welsern und Welserinnen betreuten, und nicht profit-orientierten Tisch für die Künstler und Künstlerinnen um ihre CDs, Platten und, in meinem Fall, Bücher aufzulegen. Es werden auf der einen Seite nur die Festival-Jacken und T-Shirts verkauft und auf der anderen gibt es einen Trost/Substance Stand, der leider keinen Platz für die theorals hatte. Und ich hoffte mit dem Verkauf meine nächste Miete reinzukriegen! Ach. Wir sehen vielleicht nicht so aus, aber wir leben unter der Armutsgrenze. Oder hat sich da bei dir schon was geändert?
Später konnte ich die theoral-Bücher dann bei Gerhard Busse – danke – unterbringen, aber der hat seinen Stand hinten im weißen Kammerl, wohin sich meist nur die Plattenfreaks verirren.
Wels, Samstag, 7. November 2015
Gegen Ende der Nacht neigte ich mich vom Rand zur Mitte. Ich ging mit Petr (Vrba, you know him, don’t you?), Janek and Katerina zu ihrem Auto mit Prager Kennzeichen, dessen Kofferaum voll mit von Janek gebrautem Bier ist, das er in leere belgische Bierflaschen gefüllt und wieder zugekapselt hat. Zu dieser Stunde passt auch die Temperatur des Bieres am besten. Später, auf der Tanzfläche, nahm ich noch einen großen Wodka, Russian Standard, den Peter, der Barkeeper, mit Vanilleschoten angesetzt hatte und der eigentlich für den Moloko+ (ohne Messer) gedacht war. African Jazz and Jive von DJ Lisi und DJ Didi und unsere Freunde kamen einander näher.
Es ist Mittag und ich sitze im Café Hoffmann. Am Nebentisch schwadronieren alte Welserinnen über Zelte, Zäune und Flüchtlinge. L’enfer c’est les autres. Die Hölle sind die anderen. Sartre, oder? Auch die Musik, die hier schwadroniert ist die Hölle. In diesem Café sind meine Gedanken wie gelähmt, scheiß Radio Arabella. Konzentration unmöglich. Ich stürze meinen Kaffee hinunter und flüchte aus dem Café.
Café Konditorei Urbann. Um Welten besser. Was ich denke: Schade, dass das Mädchen, you know, nicht hier ist – auch gestern beim Tanzen dachte ich an sie. Aber sie hat nichts mit dem Festival zu tun, meine Sehnsucht. Oder? Die Musik kann die Sehnsucht schon lindern oder sogar vertreiben (und vor allem auch erzeugen, horinzonte! madrugada! SAUDADE! – aber ich hab sie eh schon, die Sehnsucht). Die Musik kann die Schmerzen lindern, wenn sie so gut ist – wenn ich so gut bin – dass im Moment nichts anderes notwendig ist, dass ich mir nichts anderes wünsche. Denn, Konzentration ist die wahre Freiheit. Sei die wahre Freiheit, sagte mir Paul Lovens, habe Romy Schneider gesagt, dass es Luchino Visconti gesagt hätte. Aber, wie Virginia Woolf in The Waves, das ich nun endlich, ein Jahr nachdem du es mir ans Herz gelegt hast, zu lesen begonnen habe, sagt, also Bernard sagen lässt, ‘A good phrase, however, seems to me to have an independent existence.’ Also, Konzentration ist die wahre Freiheit, auch hier im Café, denn Virginia Woolf, ich verehre sie, ich bewundere sie, obwohl ich meine Zweifel an Bernard habe. Und diese Konzentration durch Musik kann mir leicht passieren heute Nachmittag, da Klaus Filip ein Konzert mit Leonel Kaplan spielt und Klaus es oft schafft mit seinen leisen Tönen, sine waves, meinen ganzen Körper auszufüllen – da gehört der Kopf dazu, ja, es beginnt im Kopf und die Konzentration strömt mir in die Glieder im Rhythmus meines Herzschlags. Es ist vor allem das Duo mit Radu Malfatti, mit dem es mir so geht. Das Nichtassoziative Hören gelingt mir mit den beiden sehr gut, sie füllen mich nur mit Musik, mit Sound – so müssen die Mönche Gott meditieren, denke ich mir. Die Musik, mein Gott, oder eher: die Meditation von. Die Konzentration, mein Gott. Das assoziative Hören der Weg zu Gott. Ich liebe auch das assoziative Hören, d.h. meine Assoziationen, die durch das Hören von Musik bei Konzerten, also live, erst möglich werden. Meine Gedanken wandern mit der Musik, wenn ich die Energie, die beim Spielen entsteht, in this ancient situation of a gathering and a performance, für mein Denken nutzen kann. Manchmal ist es wie wenn ich mit Freunden im Flugzeug sitzen würde, das von niemandem gesteuert wird und wir wieder dort landen wo wir abgehoben sind, ganz leicht verändert, und auch die parachutistes wiederfinden, wenn wir wieder in der Sehnsucht abgesetzt werden. You know what I mean, don’t you? Das Café gefällt mir, ich sitze im letzten Eck, fast im Wintergarten zum Hof, es erinnert mich an das Café Vitoria in Porto. Porto, meu amor!
Ach, und ich sprach vorhin von Radu. Aber zu ihm später, denn ich mache nun eine Fliege. Ins MKH zum Ersten Nachmittagskonzert (MIR-8: Werner Dafeldecker, Bass, Generator; Hilary Jeffery, Posaune). Während dem Konzert: It IS actually an ecstatic landing. You know, that’s the name of one of the LYSN record and his, HJ’s music is like this, he knows exactly what he’s talking about. I am sitting on a chair (which actually became free right next to me when I had the very strong thought, ‘I want to sit.’) like in an airplane, with my hands on my knees, open palms (=ready to give and take) which seems to me like a praying-position, eine Haltung, in der ich die Musik am besten aufnehmen kann. I feel save in this ecstatic landing with Hilary Jeffery, he makes you feel save and sound while Dafeldecker gives you a hint of the bleakness of the unkind world outside this landing. It is save and it feels a little non-satisfactory or is it so deeply satisfying that I do not recognize it right away? Outside of this landing means outside of the festival, outside of this unlimited parallel-world, this possible other world and possible better world. We leave society and gather religiously for three days – it’s like a little hadj – and build a new society which is driven by sound and music. It is US who keep this, let’s say ‘counter-culture’ alive, also you who are not here. We are such a small part of society but we won’t let it die, this idea of – an experiment in life.
Das Zweite Nachmittagskonzert (Leonel Kaplan, Klaus Filip) fand im Pavillon statt. Es war gut, aber:
Das Klatschen bevor der letzte Ton (nicht der Schatten des Tons) den Raum (nicht das Bewusstsein des Zuhörers) verlassen hat beendete beide Nachmittagskonzerte. Im Pavillon noch weitaus brutaler als bei MIR-8, wo das Konzert schon zu Ende war und die Musik langsam ausatmete als die ersten schon zu klatschen begannen. Bei Klaus und Leonel war es noch nicht aus, das Ende war ein richtiges Missverständnis, sag ich mal. Klaus spielte einen sehr hohen Sinus, Leonel legte seine Trompete etwas zur Seite (weil es für ihn schon aus war) und da viele diese hohen Töne nicht oder nicht mehr hören können begann jemand zu klatschen und alle anderen folgten. Ich öffnete meine Augen und blickte wie aus dem Tiefschlaf geweckt um mich und dachte nur FUCK!
Erklärung: Unlängst gab mir Radu eine CD (b-boim records 029) mit seiner Komposition shizuka ni furu ame was die Zeit kurz vor und kurz nach dem Regen bedeutet. Ein Stück für Gitarre, für Christián Alevar, aus Chile. Er gab mir auch die Partitur. In der Spielanleitung steht:
all sounds are played not too quietly but careful.
let the chords ring, till the shadow of the sound starts to evade your mind.
Der Schatten des Tons ist aber so ungreifbar, dass ein Konzert mit dem Aufhören der aktuellen Musik endet. Es ist ein schöner Gedanke, the shadow of the sound, aber nur ganz individuell erkennbar wenn er das Bewusstsein verlässt, wenn man es schafft, ihn überhaupt auszumachen. Also bleibt es eine Spielanleitung und wird keine Höranleitung, obwohl die Vorstellung sehr inspirierend ist.
In den meisten Fällen wird das Ende des Konzerts respektiert, dem Sound wird die Möglichkeit gegeben, das Bewusstsein des Hörers zu verlassen bevor applaudiert wird. Innerhalb der Konzerte, also zwischen Anfang und Ende, wäre es möglich, aber es kommt so selten vor, dass ein Sound wirklich zu Ende gehört wird und dass versucht wird zu fühlen, was er mit einem macht, denn: wenn man ihn nicht mehr hört, ist er ja nicht weg, er hat nur seine Form verändert. Nicht? Es ist wie beim Aufwachen in der Früh und dein Traum ist dir noch ganz nahe, du bist noch drinnen und kannst ihn vielleicht weiterspinnen – bis du dich bewegst. Die Bewegung holt dich aus dem Traum und dann ist er weg, es bleibt vielleicht nur die eindrücklichste Erinnerung. So gehts mir auch mit der Musik.
Darum gefällt mir shizuka ni furu ame so gut. Man kann auch einschlafen dabei im Vertrauen, dass ein neuer Ton mit aller Sorgfalt gespielt, kommen wird, in der Stille eines Raumes, der durch Glasscheiben von der Stadt getrennt ist. Und man behält eine Erinnerung an den Ton, auch ans Licht im Raum, an seine Stellung auf der Couch oder an den Tee, den man sich gemacht hat. Aber, auf einem Festival ist das nicht möglich, das geht nur in ganz kleinem Rahmen, wie so viel Gutes nur in ganz kleinem Rahmen möglich ist.
Ich werde Hans bitten, nein, ich werde auf ihn einreden, jedes mal wenn ich ihn sehe, dass er beim nächsten Festival weniger Konzerte programmiert. Vielleicht macht er’s dann beim Übernächsten. Ich glaube, und hab’s auch von vielen gehört, dass es zu viel ist, vor allem die Solos in den Pausen, von denen ich noch keines gesehen habe und die ich alle sehen wollte! Heute aber werde ich den Rat Katerinas befolgen – ‘you have to push through, put the people aside!’ – denn genau diese Konzentration im kleinen Raum ist meine Lieblingsart Musik zu hören. Ich wünsche mir als nächstes ein Festival mit mindestens genauso viel Zeit zwischen den Konzerten wie mit den Konzerten. Die Möglichkeit, die Musik in sich zu behalten soll erhöht, die Zeit verlängert werden sie zu verarbeiten. Alle sollen alles hören können damit sie die gleiche Erfahrung machen können, auf ihre eigene Weise natürlich, um einen ‘Zusammenhalt’ zu schüren, etwas Gemeinsames. Und die Menschen sollen auch Zeit füreinander haben, nämlich die Zeit, die sie brauchen. Das entspannt beim Zuhören.
Erstes Konzert (Scanning Grisey: Gerarld Preinfalk, Saxophon; Ernesto Molinari, Klarinette; Uli Fussenegger, Bass; Christof Kurzmann, ppooll). Gut, aber ich denke schon ans Solo von Elisabeth Harnik, also ans Reinkommen. Und ans Reinkommen in die gegenwärtige Musik. Es gelingt mir von Zeit zu Zeit und in der Ferne mache ich das Husten von Hans aus, so wie mich manchmal Traumvisionen von Violinen, die durch die Feuerwehrsirenen auf der Wienzeile (Wien) erzeugt werden, aus dem Schlaf holen.
Kurz vorm Zweiten Konzert (The Pitch: Michael Thieke, Klarinette; Boris Baltschun, Harmonium; Koen Nutters, Bass; Morten J. Olsen, Vibraphon). Es war mir zu gedrängt hinter den Bänken im Soloraum und ich konnte nichts hören, leider, denn der Raum ist gut. Mittlerweile habe ich im Hauptraum meinen Stammplatz gefunden, rechts vorne am Boden, wo ich meinen Namen mit dem Finger in den Staub geschrieben habe.
Während dem Konzert: Die Töne gehen ineinander über und teilweise in mich. Vielleicht ist es ihr Schatten, der in mich einströmt, wie die blasse Seele in Zeichentrickfilmen, die wieder in den Helden zurückkehrt, damit er weiterkämpfen kann.
Hier, nach der Hälfte des Festivals endet der Echtzeitbericht da sich meine Disziplin veränderte.
eine Woche später, Wien, Samstag, 14. November 2015
Ich wollte dir eigentlich weiter berichten heute, dass ich das Dritte Konzert von Sidsel Endresen versäumt habe, dass Didis Solo, you know, I just love what he’s doing, eine Reise durch sein Rhythmen war und dass das Vierte Konzert (Hope: Alfred 23 Harth, Saxophone, Klarinette, Trompete, Posaune, Stimme, Electronics; Uchihashi Kazuhisa, E-Gitarre, Daxophon; Nasuno Mitsuru, E-Bass; Chris Cutler, Schlagzeug, Vibraphon, Electronics) sehr 80er Jahre war, ein bisschen zerhackt, nicht so für mich, aber mit Uchihashi geht es mir wie mit Didi – vielleicht sollt’ ich mal ein Duo organisieren. Ventil war fett und das Gute war, dass der Sound einwandfrei war, die Visuals fand ich wirklich gut weil sie wie die Musik waren und nicht nebenher liefen, und man konnte vor der Bühne stehen weil die Stühle weggeräumt worden waren.
Aber, dieser Tag heute wird ein (weiterer) Stichtag in der Geschichte unserer Unterdrückung werden. Eigentlich passierte es ja gestern, Freitag der 13., nur ist es mir erst heute wirklich bewusst geworden. Am Vormittag hab ich zwei Stunden France Info gehört und erschrak über den Berichten, da ich, wenn ich in Paris war, auch immer in dieser Gegend meinen Café getrunken habe, aber viel erschreckender waren die Worte der Politik. Was François Hollande sagte unterschied sich nicht von dem was Nicolas Sarkozy sagte und nicht von dem was George W. Bush nach 9/11 sagte. Macho language. Es wird sehr viel über Krieg gesprochen. Frankreich sei im Krieg, die Anschläge seien ein ‘acte de guerre’ gewesen, die seit dem Algerienkrieg nicht mehr in einer solchen Intensität passiert sind. Als ich das hörte, dachte ich mir, ja, Algerien. 1830 besetzt Frankreich die nordafrikanische Küste und kolonisiert das Land, nimmt es den ansässigen Bauern und gibt es in die Hände europäischer Siedler. Sie lehrten Liberté, Fraternité, Égalité, das in diesem Fall mit Freedom and Democracy made in USA vergleichbar ist bzw. mit der Selbstverteidigung des Staates Israel. Die Menschen wehrten sich aber und und Mitte des XX. Jahrhunderts brach ein jahrelanger Unabhängigkeitskrieg aus, der mit einem zerstörten und ideologisch geteilten Land, vielen Flüchtlingen und einem Bürgerkrieg als Spätfolge endete. Aber ich möchte dir keine Geschichtsstunde halten, kann ich auch nicht. Es wäre nur interessant, wie viele Parallelen, außer dem multi-site Attentat, noch zu finden sind zwischen der heutigen und der damaligen französischen bzw. europäischen und US-amerikanischen Politik. Hollande erklärte den Terror als Anschlag auf die französischen Werte. Das ist sehr perfide, er nimmt sich, Europa und jeglichen Großkapitalismus, dessen Ausbeutungsmethoden vor nichts und niemanden zurückschrecken, aus dem Spiel (= aus der Schuld) und portraitiert sich, sie und uns als Opfer von religiösem Fanatismus. Aber ich denke dieser, okay nennen wir ihn Krieg, ist ein Krieg um Ressourcen, wie jeder Krieg, Ideologie kommt später. Oder: Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, sagt Brecht. Also waren auch sie es, Politik und Kapitalismus, die den Terror nach Paris brachten, zu uns. Aber die Medien kreieren ein Narrativ das uns vermittelt, dass wir von außen bedroht sind (und nicht, wie ich glaube, von innen) und dass wir Opfer bringen müssen. Aber ich möchte für sie keine Opfer bringen, ich muss aber, ich kann nicht anders da ich in dieser ‘westlichen Gesellschaft’ lebe und vieles mitmache, das unsere Herrscher bestätigt. Wie immer komme ich dann auf die Foucault’sche Frage zurück und ich frage mich wie ich es schaffen könnte nicht DERMAßEN regiert zu werden.
Okay, ich werde dir nun weiter erzählen, andere können viel besser über Weltpolitik schreiben als ich. Am Sonntag des Festivals ließ ich das Nachmittagsprogramm (Film: Cecil Taylor ou la découverte du free jazz; The International Nothing: Kai Fagaschinski und Michael Thieke, Klarinette, Komposition) aufgrund von Müdigkeit sausen. Bogdan legte die Nacht davor gnadenlos auf und ich erwischte etwas mehr vom Vanillewodka oder er erwische mich, wie der Schatten eines Sounds. Dazu kam, dass unser Zimmer einem Wirtshaus glich. Es wurde zu allen Zeiten gegessen und getrunken, geredet und geraucht. Die Luft war zum Schneiden, besser als die Eselswurst, die Hans und Ute vom Markt mitgebracht hatten. Zwei Nächte hatten wir noch einen zusätzlichen Schlafgast – sie stöhnten, imagine ! – und von Sonntag auf Montag schliefen wir gar nicht mehr.
Aber nun zum Sonntag. Ich hab nicht mehr mitgeschrieben und fast nichts mitnotiert. Wenn ich mich an meinen, zu Beginn des Briefes angekündigten, Vorsatz erinnere, muss ich sagen, dass ich versagt habe. Menschliches Versagen, möchte ich es nennen. Denn ich wurde ins Fest hineingezogen und hineingesogen. Es saugte mich an und plötzlich fand ich mich auf der Tanzfläche wieder. Es machte so viel Spaß, sich zu der unglaublich guten Tanzmusik zu bewegen. Du kennst das. Und es erinnert mich daran was du über PRAED+ letztes Jahr in Nickelsdorf gesagt hast: ‘Du musst tanzen um die Musik besser aufnehmen zu können und zu verstehen’.
Ich werde dir nun aus meinem Gedächtnis, mit dem ich mich nur auf minimale Notizen, die ich im Dunkeln gemacht habe, stützen kann, versuchen zu berichten.
Es begann mit einem Solo von Thomas Lehn, das ich nicht hörte, wahrscheinlich weil ich mich schon für das Erste Konzert an meinen Platz begeben hatte. Ich hörte die Konzerte fast immer alleine, bis auf die Solos, die ich unter Freunde gedrängt oder zu Füßen des oder der Spielenden wahrnahm, wie das von Irena Tomazin, Stimme am Samstag – Was soll ich sagen? Mir gefällt das. – und das letzte am Sonntag von Franz Hautzinger. Alle bewunderten seine Schuhe, die ich in vierzigcentimetriger Entfernung vor mir hatte. Ich bewunderte aber viel mehr die langsame Dynamik seines Spiels, es passierte nicht viel, dennoch hatte ich den Drang – und zwar nicht aus Ungeduld! – mit dem Fuß zu wippen. Es war, wie wenn er seine Trompete einfach nur in den Wind hielte und in der Stille entstand ein Groove. Ein Requiem für den Jazz?
Aber nun zum Ersten Konzert mit Sophie Agnel und John Butcher (Klavier, Saxophone). Wegen der vielen Musik, der vielen nicht geschlafenen Stunden, dem Tanz mit den Freunden und Freundinnen und dem seidenen Vanillewodka, arbeitete – wie du dir sicher vorstellen kannst – mein Gehirn schon ganz anders als bei der Anreise. Ich war sofort drinnen, ich fühlte mich, wie wenn ich zwischen den beiden auf der Bühne sitzen würde und ich trank die Musik. Sie spielten das erste mal miteinander. Es gab nur einmal vor einiger Zeit eine Nachmittagsprobe im Les Instants Chavirés in Montreuil. Sie ließen den space für die Musik, den ich meine – the sounds can evolve slowly in my mind, kritzelte ich mir auf meinen Notizzettel. Sie kreierten eine Stille, in der, wie ich mir vorstellte, das ganze Haus ruhig war und niemand einen Laut von sich gab, sogar oben in der Bar und in der Küche wurde ganz leise gearbeitet in diesen Momenten.
Danach kam das Zweite Konzert (Anna Högberg Attack!: Anna Högberg, Altsaxophon; Malin Wättring, Tenorsaxophon; Elin Larsson, Tenorsaxophon; Lisa Ullén, Klavier; Elsa Bergmann, Bass; Anna Lund, Schlagzeug) das ich nur zu einem Bruchteil hörte. Kann es sein, oder bilde ich mir das ein, dass Anna in ihren Habitus viel von Mats Gustafsson aufgenommen hat? Ist dir das auch schon aufgefallen oder kannst du dazu überhaupt etwas sagen? Auch beim Solo war ich nicht. Vielleicht hab ich auf einen Kaffee gewartet – es gab dieses Jahr besonderen Kaffee von einem, ich glaube Welser, Privatkaffeeröster, der sehr sorgfältig und so langsam wie möglich die kleinen Braunen für die Leute zubereitete. Aber in der Schlange war man meist in guter Gesellschaft. Oder ich war essen im wieder laut arbeitenden Restaurant. Danach kam das Dritte Konzert (Songs about Love and other Relationships: Michael Zerang, Gitarre, Stimme; Carla Bozulich, Gitarre, Stimme). Diese beiden Sets hörte ich in freundschaftlicher Runde. Michael war richtig professional, souverän, aber love, in seinen Songs, war mir zu nahe am Lustigen. Und love ist ernst, wie du weißt. Carla Bozulich, was soll ich sagen? Ihre Songs sind ernst, aber ihr Auftreten war es nicht, punkt.
Das Vierte Konzert mit Christian Fennesz und Burkhard Stangl (Gitarre und Computer) erinnerte mich an letzten Sommer als ich am Kleylehof in der warmen, trockenen Wiese lag und in die Sternenkuppel blickte. Sterne sehe ich selten beim Konzert hören und wenn, ist es immer gut!
Als Letztes Konzert kam das DKV Trio (Hamid Drake, Schlagzeug; Kent Kessler, Bass; Ken Vandermark, Saxophone, Klarinette). Es war groovy aber woran ich micht très vivant erinnere, ist, dass Hamid, als er zwischen zwei Stücken alleine spielte, dem Sound den Raum gab, den ich meine. Er spielte leise auf den Becken und ließ sie manchmal ganz ausschwingen.
Ich frage mich hier, am Ende des Briefes, ob ich dir etwas zusammenfassen kann. Jemand sagte zu mir ich erinnere ihn (oder war es eine Sie?) an den jungen Werther. Goethe, you know. Oder vielleicht, dass es mir zu viel Musik war und dass Christof während dem Festival mal sagte, dass die Leute wählen sollen. Dass aber vor allem der Solo-Raum mich inspirierte und zum Nachdenken über neue Formen von Festivals anregte. Vielleicht sollten wir überhaupt weggehen von einer großen Hauptbühne, nicht ganz vielleicht, aber die Konzerte auf mehrere, kleinere Orte verteilen und wiederholen, so, dass der/die Einzelne die Möglichkeit hat, sich alle Musikerinnen und Musiker, die zum Festival eingeladen wurden, in einem vertraulichen Rahmen anzuhören. Die MusikerInnen können auch scheitern und es wieder gut machen oder es gut machen und dann scheitern. Auf der Hauptbühne, wenn es dann noch eine gibt, sollen nur die für die Hauptbühne geeigneten Konzerte, was auch immer das heißt, stattfinden und alle wieder zusammenbringen. Ist das machbar?
Ich will mich nicht beschweren, denn es gibt viele, viele gute Festivals over here, wie eben dieses Unlimited 29 mit so viel Charhizmatic Music! Es ist gelungen. Es war eine Reunion, a Meeting and Parting unserer möglichen besseren Welt, es war ein Fest!
Yours ever,
Felipe
ps. I just found a note that says ‘Gin/Jean/Djinn’. It was Julia who told me about this conversation she had with Hans and Guiseppe, an Italian who is, I think, from the Area Sismica. Guiseppe was talking about his very special Gin that he had in his room (and once he brought it to the bar and we had a Gin & Tonic – I didn’t taste any difference). While he was talking, Julia thought about jeans, the trousers and Hans thought of Djinns, the spirits.

Foto: Lukas Maul. https://www.facebook.com/festivalmusicunlimitedwels/photos/a.976909032350680.1073741832.127158530659072/976909059017344/?type=3&theater